"Nie wieder", schwöre ich meinem Spiegelbild,
"nie wieder wird dieses Arschloch das mit mir machen!"
Wütend betupfe ich die Verletzungen in meinem Gesicht.
Noch immer sickert Blut aus dem Riss unterm Nasenflügel,
aus der geplatzten Oberlippe, die inzwischen heftig angeschwollen
ist. Auch die Gegend um das rechte Auge scheint kräftig
etwas abbekommen zu haben. Morgen werde ich mit einem herrlichen
Veilchen durch die Gegend laufen. Was soll ich den Leuten bloß
wieder erzählen? Mir fallen bald keine Ausreden mehr ein!
Herrgott, ich bin so wütend, so verdammt wütend! Zum
Kotzen, wie ich schon wieder aussehe. Zum Kotzen, wie er mich
wieder zugerichtet hat. Zum Kotzen!
Der Toilettendeckel knallt gegen den Spülkasten. Ich muss
würgen - wieder und wieder, bringe den ganzen Mist heraus.
Dann lasse ich das Waschbecken mit kaltem Wasser voll laufen,
tauche mein Gesicht hinein. Nie wieder, denke ich, nie wieder!
Hätte Lust, nicht mehr da zu sein, mich in Luft aufzulösen,
einfach zu sterben.
Bevor ich tatsächlich ersticke, tauche ich wieder auf,
schnappe nach Luft. Einen Moment lasse ich das Wasser von den
Haaren, von der Haut rinnen, vom Kinn tropfen, sehe mich an.
Verachte sie, diese Frau mit den strähnigen nassen Haaren,
dieses fremde Wesen, das ausschaut, als sei es für einen
Horrorstreifen in der Maske gewesen.
Angewidert tupfe ich meine Haut trocken, werfe das blutfleckige
Handtuch in den Wäschekorb und tappe barfuß die Treppe
hinab. Für den Augenblick habe ich Ruhe, Richard ist endlich
eingeschlafen. Sein Schnarchen dringt aus der Mansarde herunter.
Sicher weiß er morgen früh wieder von nichts. Wie
so oft.
Unten in der Küche setze ich Teewasser auf und lasse mich
auf einen der harten, schwarzen Stühle sacken. Sofort dieser
Schmerz im Steißbein! Für einen Augenblick bleibt
mir die Luft weg. Hab nicht an den Tritt gedacht, der mich dort
mit voller Wucht getroffen hat, als ich am Boden lag. Nach ein
paar tiefen Atemzügen geht es wieder einigermaßen.
Ich stütze meine Ellbogen auf die Tischplatte und vergrabe
meinen Kopf in den Händen.
So etwas passiert mir nicht noch einmal, mein Lieber! Ganz sicher
nicht. Viel zu lange habe ich still gehalten und für dich
gelogen. Habe dafür gesorgt, dass niemand erfährt,
was für ein Arschloch du in Wahrheit bist, habe darauf
geachtet, dass dein guter Ruf nicht beschädigt wird. Aber
damit ist jetzt Schluss. Jeder Mensch hat irgendwo eine Schmerzgrenze,
auch wenn meine viel zu lange einem ausgeleierten Gummiband
glich. Jetzt ist es, als habe jemand daran gezogen und es gestrafft.
Nur noch Wut und Hass sind da, und plötzlich keimt in mir
der Wunsch nach Vergeltung. Wie durch einen Filter nehme ich
mein eigenes, bitteres Lachen wahr.
Der Wasserkessel fährt mit seinem schrillen Pfeifen in
meine Gedanken. Ich zucke zusammen, als habe man mich ertappt.
Auch beim Aufstehen, spüre ich den Schmerz in meinen Gliedern.
Ich muss mir den Rücken stützen, schiebe mich sozusagen
selbst hinüber zum Teeregal. Einen Moment konzentriere
ich mich auf die Frage, welches Tütchen ich wählen
soll. Entscheide mich für Melisse. Muss mich beruhigen.
Hoffentlich haben Britta und Jan nichts gehört. Sie schlafen
direkt über dem Wohnzimmer. Hoffentlich haben sie das Theater
nicht mitbekommen. Nicht schon wieder. Ich weiß, sie leiden
unter der beschissenen Situation genauso wie ich. Nein, sicher
mehr als ich. Ich bin erwachsen, könnte mich wehren, hätte
mich längst wehren sollen. Doch die Kinder? Wie fühlt
sich ein Kind, dem die Welt zerbricht, dem das Vertraute, Geliebte,
das, was verdammt noch mal für Sicherheit und Geborgenheit
zuständig wäre, wenn dieses Vertraute plötzlich
zur Bedrohung, zur Gefahr wird? Ich müsste es doch wissen.
Hab' ich's vergessen?
Der Tee hat genug gezogen. Ich gieße mir ein, löffele
ein paar Stückchen Kandiszucker dazu und balanciere die
Tasse nach oben in den ersten Stock. Komme kaum die Treppe hoch,
und der Tee schwappt ein paar Mal heiß über meine
Finger. Schmerzen auch an der Schulter. Mit dem Kerzenleuchter
muss er mich dort erwischt haben.
Oben lausche ich kurz in die Zimmer der Kinder. Jan ist erkältet,
und es rasselt ein wenig beim Atmen. Aber seine Atemzüge
sind ruhig und regelmäßig, er scheint fest zu schlafen.
Gott sei Dank. Britta liegt mit dem Gesicht zur Wand, hat die
Decke über den Kopf gezogen, reagiert nicht. Wenn sie noch
wach wäre, hätte sie sich jetzt zu mir umgedreht.
Vorsichtig ziehe ich die Türen wieder zu, gehe hinüber
in mein Schlafzimmer. Im Bett nippe ich vom meinem Tee. Tut
gut, die Wärme im Bauch.
Ich ziehe mir das Kopfkissen über die Ohren. Kann's nicht
mehr hören, dieses Schnarchen. Seit er fast durchgängig
betrunken ist, wird auch das immer lauter. Kann mich nicht erinnern,
dass er früher so laut geschnarcht hat. Früher, als
er noch einen Halt hatte. Früher? Wann war das? War das
überhaupt ...?
Durch die Jalousiespalten greifen warme
Lichtfinger in mein Schlafzimmer und zerschneiden den Kleiderschrank
in kleine, übereinander gestapelte Abschnitte. Ehe ich
vollends erwache, betrachte ich dieses Spiel eine Weile wie
durch milchiges Glas, wie einen Traumfetzen. Dann, als ich mich
bewege und ein Stück drehe, ist mein Körper wieder
da. Ich fühle mich, als hätte ich gestern fassweise
Weinbrand getrunken und wäre einmal durch den Wolf gedreht
worden.
Unten in der Küche hat jemand mit Geschirr geklappert.
Britta wahrscheinlich. Vermutlich wird sie mir gleich Kaffee
ans Bett bringen.
Ich denke an gemeinsame Sonntagsfrühstücke im Bett.
Ganz flüchtig nur. Denke ihn mir lächelnd, mit noch
feuchten Haaren vom Duschen, dunkel glänzend und streng
zurückgekämmt, ein Badetuch um die Hüften geschlungen.
Nackt und muskulös der Oberkörper, ohne Behaarung.
Teppiche auf Männerbrüsten fand ich immer widerlich.
Ich denke mir die Rose zwischen seinen Zähnen, die er in
die kleine Vase auf dem Tablett steckt, bevor er es mir auf
die Beine stellt, dann das Handtuch aufknotet und fallen lässt,
auf der anderen Seite des Bettes - geschmeidig wie ein Wiesel
- unter die Decke schlüpft, mir einen Kuss auf die Wange
drückt und nach der ersten Brötchenhälfte schnappt
...
Bin froh, dass ich ihn morgens kaum noch sehe. Obwohl ich morgens
nicht befürchten muss, dass er gleich wieder durchdreht.
Am Morgen scheint sich eine watteweiche Glocke über ihn
gestülpt zu haben. Eine, die ihn zwischen Wach und Traum,
zwischen Er-Leben und Er-Trunkensein gefangen hält.
Das Schnarchen aus der Mansarde ist leiser geworden. Morgens
ist es immer leiser. Muss daran liegen, dass der Alkoholspiegel
sich über Nacht abbaut. Säufer schnarchen besonders
intensiv, und sie sind in hohem Maße vom Atemstillstand
bedroht, hab ich irgendwo gelesen. Wie oft habe ich mir während
der letzten Zeit gewünscht, dass Richard in einer seiner
Schnarchpausen erstickt.
Mit einiger Mühe, wieder meinen Rücken stützend,
zwinge ich mich hoch, schlurfe hinüber zum Fenster, ziehe
die Jalousie nach oben und sehe einen Moment hinaus in den Garten.
Ein wunderschöner, ein sonniger Tag. Der Kirschbaum steht
voll in Blüte und sieht aus, als habe man ihn mit weißer
Spitze überzogen.
Tessa muss das Geräusch gehört haben. Sie hockt unten
auf der Wiese, wischt mit ihrem Schwanz über das Gras und
hechelt angespannt zu mir hoch.
Ist sie immer noch draußen oder schon wieder? Ich erinnere
mich daran, dass Richard sie gestern Nacht ausgesperrt hat.
Sie wollte mir beistehen und ist auf ihn losgegangen ...
Doch ich bin noch zu träge, mir darüber Gedanken zu
machen, zu kaputt. Außerdem ist Britta schon auf und wird
Tessa wieder ins Haus lassen. Ich krieche zurück unter
meine Bettdecke und greife nach der Zigarettenschachtel auf
dem Nachtschrank. Sie ist leer.
Jetzt höre ich, wie kleine, nackte Füßchen die
Treppe heraufgetappt kommen.
"Britta!", rufe ich. "Britta, bringst du mir
bitte eine neue Packung Zigaretten aus der Schublade mit hoch?"
Die kleinen Füßchen auf der Treppe stoppen, kehren
um und nehmen bald darauf einen neuen Anlauf. Britta streckt
den Kopf zur Tür herein. Dann schiebt sie in der einen
Hand die Zigarettenpackung, in der anderen eine Kaffeetasse
in den Raum.
"Morgen, Mami."
Sie wirft mir die Zigarettenpackung entgegen. Ich fange sie
auf, lege sie auf den Nachtschrank. Rücke ein Stück
zur Seite und klopfe auf den Platz neben mir. Sie stellt die
Kaffeetasse ab und kriecht zu mir unter die Bettdecke.
"Ich hab' unten schon das Frühstück vorbereitet.
Geht's dir gut, Mami?"
Ich lege ihr den Arm um die Schulter und ziehe sie an mich heran.
"Geht so ..."
"Ich hab' dich heute Nacht weinen gehört."
"Weinen?"
"Ja, und schreien. Hat er dir ...", sie stockt einen
Moment, und ich fühle, wie sie zittert, "hat er dir
wieder weh getan, Mami? Er soll dir nicht immer weh tun!"
"Was macht Jan? Ist er auch schon auf?", will ich
wissen und drücke mich damit um eine Antwort.
"Er ist zu Sebastian rüber. Wollte dich nicht stören.
Du hast so fest geschlafen. Ich hab' ihm was zu essen gemacht.
Tessa war auch schon pinkeln."
"Ja", gähne ich, "ich hab' schon gesehen,
dass sie noch im Garten ist. Dann hast du sie herausgelassen,
oder?"
"Nee, die war schon draußen. Habt ihr sie vergessen
gestern Abend? Zum Glück war kein Gewitter. Ihr wisst doch,
dass sie Angst hat bei Gewitter."
"Arme Tessa", sage ich, greife über Britta hinweg
nach meinem Kaffee, trinke einen Schluck, setze die Tasse wieder
zurück. "Ja, zum Glück war kein Gewitter gestern
Nacht."
"Aber es hätte sein können. Find ich nicht gut,
dass ihr sie über Nacht draußen gelassen habt."
Tessa ist eigentlich Brittas Hund. Richard hat sie ihr vor ein
paar Jahren als Welpe zu Weihnachten geschenkt. Britta hängt
an der Hündin wie an einer kleinen Schwester.
Ich fische die Schachtel vom Nachtschrank, reiße sie auf,
ziehe eine von den Zigaretten heraus, stecke sie mir in den
Mundwinkel. Das Feuerzeug in meiner Hand zittert. Tief ziehe
ich den Rauch in meine Lungen, halte ihn einen Moment, muss
husten.
"Mein Gott, wann hörst du endlich damit auf?"
Angewidert wedelt Britta den Qualm von sich.
"Hast ja Recht. Bald. Ich versprech's. Ganz bald",
sage ich und streichle ihre Wange.
"Früher hast du doch auch nicht geraucht. Du rauchst,
seit Papa dir weh tut. Er soll dir nicht mehr weh tun, Mama",
flüstert sie leise, "ich will das nicht! Manchmal
hab' ich Angst, dass du am Morgen, wenn ich zu dir komme, nicht
mehr lebst. Die Katrin hat zum Beispiel neulich in der Zeitung
gelesen, dass ein Vater seine Frau umgebracht hat. Dann ist
er ins Gefängnis gekommen, und die Kinder mussten ins Heim.
Ich will nicht ins Heim, Mami! Da würde ich weglaufen.
Zu Omi oder so. Da würd' ich auf keinen Fall bleiben ..."
Sie verzieht das Gesicht, ihre Lippen beben. Sie schlingt mir
ihre Ärmchen um den Hals, drückt sich an mich und
weint.
Wieder streiche ich sanft über ihre Wange und hauche ihr
einen Kuss ins Haar. "Brauchst keine Angst zu haben, Schatz,
das wird bei uns nicht passieren. Ganz bestimmt wird das bei
uns nicht passieren. Ich regele das schon ..."
Endlich Montag. Mein Entschluss steht fest.
Britta und Jan sind in der Schule. Jan wollte heute wieder kein
Frühstück. Auch nichts für die Pause. Ich glaube
manchmal, er will sich weghungern. Isst wie ein Spatz. Magersucht
schon mit sieben Jahren?
Ich lege mich eine Viertelstunde in die Badewanne. Schön,
das warme Wasser. Pilatus schießt mir in den Sinn. Ich
wasche meinen ganzen Körper in Unschuld - schon bevor es
geschehen ist. Bin ich schuldig? Werde ich schuldig sein? Oder
handle ich in Notwehr? Gibt es eigentlich so etwas wie Gerechtigkeit?
Warum fällt ihm kein Stein auf den Kopf? Warum überfährt
ihn kein Auto, beißt ihn keine Schlange?
Ich muss es selbst tun. Das wird mir immer klarer.
Sorgfältig trockne ich mich ab, creme mich ein und ziehe
mich an.
Wieso bin ich so ruhig?
Er hat sich wieder hingelegt. Gesehen habe ich heute noch nichts
von ihm. Heute war er für mich nur ein Geräusch. Eines,
das mich jedes Mal zusammenzucken lässt. Und ein Geruch.
Die Mischung aus abgestandenem, in der Luft stehendem Alkoholdunst,
kaltem Nikotingestank und süßlich-herbem Deodorant.
Einfach widerlich.
Ich greife meinen Mantel, nehme die Autoschlüssel vom Haken
neben der Haustür und gehe in die Garage. Fühle mich,
als liefe ich neben mir her. Bin ich das? Ich, das angepasste,
immer beherrschte Wesen? Die Frau, die jahrelang fast alles
widerspruchslos hingenommen hat? Die, die schon zweimal mit
Prellungen und Knochenbrüchen im Krankenhaus gelandet ist?
Von allen 'unerheblichen' Verletzungen mal ganz zu schweigen?
Gestern war er wohltuend abwesend. Verbrachte den Tag zurückgezogen
oben in seiner Mansarde. Kurierte seinen Brummschädel aus
und arbeitete gleichzeitig am nächsten. Immer nur kurz
kam er herunter, schluffte in seinen Filzpantoffeln durch die
Küche, schien jeweils zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank
geholt zu haben (ich hörte es am Aneinanderklirren von
Glas), und verschwand wieder. Irgendwann muss er so betrunken
gewesen sein, dass er mitsamt seinen Aggressionen im Vollrausch
eingeschlafen ist. Gott sei Dank.
Nach dem Mittagessen hatte ich Jan bei Sebastian abgeholt und
war mit ihm und Britta zu meinen Eltern gefahren. Die Kinder
sind gern bei Oma und Opa. Opa kann herrlich Geschichten vorlesen,
und dann gibt es da den Bach in der Nähe und die Nachbarskinder,
mit denen man im nahe gelegenen Wäldchen Buden bauen kann.
"Wo habt ihr Euren Vater gelassen? Ist was mit Richard?"
Meine Mutter hat schon lange eine Ahnung. Aber ich werde mir
lieber die Zunge abbeißen. Ich weiß, sie ist herzkrank.
Ich half ihr das Mittagessen vorzubereiten. Putzte die spanischen
Bohnen vom Markt, schälte die Kartoffeln und erzählte
ihr davon, dass ich mal wieder über die eigenen Füße
gestolpert sei.
"Kind, du fällst in letzter Zeit reichlich oft",
hatte sie kopfschüttelnd bemerkt und mir die Hand unters
Kinn geschoben. "Wart mal - und halt still!"
Sie betupfte die Wunde an meiner Oberlippe mit einem kamillosangetränkten
Küchentuch und sah mich dabei - wie immer - auf diese seltsam
wissende Weise an.
Ihm nur nicht mehr begegnen müssen, hab' ich gestern gedacht.
Dann lieber ein schnarchender Vater auf dem Sofa, eine häkelnde
Mutter im Ohrensessel, zwei eingedöste, von Oma in eine
Decke gewickelte Kinder auf dem Perserteppich und einmal quer
durchs Fernsehprogramm bis zum Nacht-Journal.
Gleich um zehn habe ich den Termin bei meinem Neurologen.
Ich lege den Gurt an, werfe einen kritischen Blick in den Rückspiegel,
zupfe ein wenig an meinen Haaren herum und verreibe die weißen
Reste der Salbe an meiner Oberlippe. Finde, dass ich schrecklich
aussehe. Nicht zu ändern. Jedenfalls nicht im Moment. Seufzend
lasse ich den Motor an und fahre los. Zum Glück kein Berufsverkehr
mehr. Aber es ist schwer, in der Stadt einen Parkplatz zu finden.
Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich eine Weile auf dieses
Problem.
Abgehetzt schaffe ich es bis ins Wartezimmer. Nur wenige Leute
darin. Alle haben ihren Termin. Ich blättere in einer Zeitschrift
vom letzten Monat. Dass die immer diese uralten Dinger in ihren
Wartezimmern herumliegen lassen müssen! Ich lese, ohne
zu begreifen. Tratschgeschichten aus der High Society. Interessiert
mich alles nicht. Auf jeden Fall haben die auch ihre Probleme.
Offensichtlich.
Wieso bin ich so ruhig?
Die Tür geht auf. "Frau Merkel*?"
Die Hüfte schmerzt, als ich aufstehe und die wenigen Schritte
hinüber zu meinem Arzt ins Sprechzimmer gehe. Ich setze
mich vor seinem Schreibtisch auf den eleganten schwarzen Ledersessel
und starre auf die Papiertaschentücher. Sie liegen zwischen
dem Kalender und dem silbergerahmten Familienfoto auf der Schreibtischplatte.
Wie immer.
Wir kennen uns schon lange. Seit Jahren behandelt er die Nervenschmerzen
in meinen Schultern, die sich organisch eigentlich nicht erklären
lassen. "Sie sollten sich einfach nicht so viel aufladen",
rügt er mich ständig, und ich weiß, dass er
damit meine psychische Last meint. Er ist der Einzige, der über
alles Bescheid weiß. Bis auf Elvira natürlich. Aber
die ist im Augenblick weit weg.
Er schiebt meine Karteikarte und seinen Stift zur Seite, lehnt
sich in seinem Sessel zurück und lächelt mich an.
Signalisiert Aufmerksamkeit, erwartet die aktuelle Geschichte
von mir. Auch wie immer.
"Ich hab' in den letzten Wochen furchtbare Schlafprobleme",
beginne ich zaghaft. "Hab' schon alles versucht. Gelesen
vor dem Schlafengehen, warm gebadet, Baldriantropfen geschluckt,
Melissentee getrunken. Bin abends noch mit dem Hund spazieren
gegangen, um mich zu beruhigen. Aber es hilft alles nichts.
Ich kann einfach nicht einschlafen. Das macht mich fertig! Meine
Nerven sind zum Zerreißen gespannt! Ich muss endlich mal
wieder tief schlafen. Ich brauche ein Schlafmittel. Eines, das
besser und länger wirkt, als das frei verkäufliche
Zeug aus der Apotheke."
Er sieht mich eine Weile wortlos an, und ich fühle mich
dabei wie mit Röntgenaugen durchleuchtet. "Sind Sie
sicher, dass Ihnen das helfen wird?", fragt er dann, beugt
sich wieder vor, stützt die Arme auf den Schreibtisch und
sieht mir prüfend in die Augen. "Müssen Sie da
nicht an grundsätzliche Dinge heran?"
"Ach Gott, ja", sage ich und weiche seinem Blick verunsichert
aus. "Als Außenstehender kann man immer leicht reden
..."
"Vielleicht weil man als Außenstehender objektiver
ist", bemerkt er lakonisch, und ich überlege fieberhaft,
wie ich ihn davon überzeugen kann, dass mir in dieser akuten
Situation keine Zeit bleibt für den langwierigen Prozess
grundlegender Veränderungen. "Ich sehe doch, wie Sie
unter Ihrer Situation leiden. So können Sie nicht bis in
alle Ewigkeit weiter machen, ständig nur an den Symptomen
kurieren und Pillen schlucken. Ihr Problem liegt ganz woanders.
Sie brauchen keine Chemie, Sie müssten wirklich mal nach
Alternativen schauen, ihren Mann dazu bringen, dass er endlich
eine Familientherapie mit ihnen zusammen in Angriff nimmt. Ja,
oder ihn konsequent vor die Wahl stellen ..."
"Ich weiß, ich weiß", verlege ich mich
aufs Weinerliche, die Taschentücher im Blick. "Aber
dazu brauche ich Kraft. Dazu muss ich mal richtig schlafen können.
Sie wissen, dass ich Angst habe, dass er mich bedroht. Er wird
mich überall finden, wenn ich ihn verlasse, hat er gesagt
..."
Endlich gelingt es mir in Tränen auszubrechen, und ich
angele nach der Packung mit den Papiertaschentüchern."Wir haben ja schon getrennte Schlafzimmer. Das bringt
ein bisschen Distanz, und manchmal können wir sogar wieder
miteinander reden. Es ist ja nicht so, als geschähe gar
nichts. Das geht nur alles nicht so schnell. Helfen Sie mir.
Bitte! Ich kann nicht mehr. Diese Schlaflosigkeit saugt mich
aus, zieht mir die Energie ab. Wenn das so weiter geht, schaffe
ich gar nichts mehr."
Aus meinem gequälten Weinen wird hemmungsloses Schluchzen.
Geräuschvoll putze ich mir die Nase. Ich versuche, meine
Augen frei zu reiben. Die Wimperntusche muss mir das ganze Gesicht
verschmieren. Doch was soll's. Kommt sicher gut.
"Ungern mache ich das. Sie arbeiten - wie gesagt - am Symptom.
Eigentlich unterstütze ich das nicht gern." Er senkt
den Kopf, scheint ein paar Augenblicke nachzudenken, mit sich
zu ringen. Dann greift er endlich nach seinem Rezeptblock und
beginnt zu schreiben. Geschafft!
In der Apotheke nehme ich hastig die Packung an mich.
*Gilt für die Print-Versionen:
Ich schwöre, dass es zu dem Zeitpunkt,
als ich dieses Buch schrieb, noch keine "Frau Merkel"
in der Politik und schon mal gar nicht im Bundeskanzleramt gab!
In der Ebook-Version habe ich die Protagonistin Lisa nun umbenannt in "Brink". Ansonsten wäre es mir zum aktuellen Zeitpunkt doch langsam etwas unangenehm. ;-)
Fühl mal,
Schätzchen.
Roman.
Ulrike Linnenbrink
Originalausgabe: Lübbe-Verlag 1994
Überarbeitete Ausgabe 2012: IL-Verlag, Basel, April 2012
Paperback, 176 S.
ISBN: 978-3-905955-42-2
Preis: 14,90 EUR
Bei Amazon
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